Meine Tochter kann jetzt stehen.

Geil, oder? So ein kleines Menschenkind stemmt sich plötzlich auf seine unglaublich kurzen, unglaublich speckigen Beinchen und dann steht es da rum. Noch nicht mal ein Jahr nach dem ersten Atemzug.

Wahnsinn. Was für eine Leistung so ein kleines Gehirn bringen kann. Koordination. Bewegungen. Muskelaufbau.

Und das alles ohne Anleitung.

Krass.

Das ist bei allem Lernen so. Und das ist mir so wichtig zu veranschaulichen, dass ich euch heute extra darüber einen Artikel schreibe.

Denn eine treibende Kraft der Erziehung ist die Angst, ein Kind würde ohne sie (etwas bestimmtes) nicht lernen.

Ich kann gar nicht daran denken, wie viel Leid diese Idee schon in Familien und Orte, wo Kinder begleitet werden, gebracht hat.

Die ‚was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr‘-Idee ist nicht neu. Neu ist, dass alle Forschung, alle Erkenntnisse der letzten 40 Jahre das Gegenteil zeigen.

Zusammengefasst kann man heute sagen: Wir können immer lernen – wenn die Voraussetzungen gegeben sind.

Was wir nicht mehr nachholen können, oder nur sehr mühselig, ist die Entwicklung eines gesunden Selbstwertes, Urvertrauen und Bindung. Und genau diese drei Dinge werden durch Erziehung im Namen des ‚Lernens‘ angegriffen.

Hören wir also dringend auf damit!

Lernen, was ist das eigentlich?

Der komplexe Vorgang Lernen beschreibt das Verinnerlichen einer Erfahrung. Wohlgemerkt, und hier dürfen sich alle Anhänger_innen der klassischen Erziehung und Bildung auf einen Schock gefasst machen: Das hat absolut nichts mit Auswendiglernen zu tun.

Auswendiglernen ist nicht nachhaltiges Lernen. Auswendiglernen ist Auswendiglernen. Reinstopfen, auskotzen. Fertig.

Dazu gibt es viele kluge Beobachtungen. Die Kritik ist sogar inzwischen in den Lehrplänen der Regelschulen, den Fabriken des Auswendiglernens, angekommen (hier zum Beispiel geht es darum).

Echtes Lernen, nachhaltiges Lernen, tief verankertes Lernen, das Wissen über die Welt – dieses Lernen hat Voraussetzungen. Und zwar diese:

1. Erfahrungen machen

Es ist ganz simpel: Wenn mir ewig jemand erzählt, etwas sei ‚heiß‘, ’nass‘ oder ‚hoch‘ kann ich nicht wissen, was das ist, bis ich die Erfahrungen gemacht habe, die mit diesem Wort verknüpft sind. Und unser Gehirn kann sie nur so speichern.

Das gilt für simple wie für komplexe Dinge. Begriffe und die dazugehörige Lernerfahrung werden ständig neu verknüpft. Und immer wieder erweitert und differenziert.

Das geht nicht, wenn die dazugehörige Erfahrung fehlt. Logisch, oder?

2. Schutz vor Wertung

Seit Jahren zeigen Studien, dass Kritik am Lernen hindert. Lob übrigens auch.

Da wir hier in meinem Blog nicht erziehen und damit den Bewertungskram eh nicht (mehr) machen (wollen), merken wir uns einfach, dass das ein weiterer der vielen Punkte ist, die Erziehen so sinnlos machen: Bei Bewertung wird das Gehirn am Lernen gehindert.

3. Beziehung

Nichts ist so wichtig wie die Beziehungen zu anderen Menschen für ein menschliches Wesen. Beziehung ist eines unserer Grundnahrungsmittel für die Seele.

Wir sind auf Beziehungen gepolt und soziale Wesen. Und unser Gehirn verknüpft Lern- mit Beziehungserfahrungen.

Das hast du bestimmt selber erlebt – die doofen Lehrer_innen hatten die doofen Fächer. Oder?

4. Freude und Positivität

Eine positive Lebenseinstellung ist nicht nur Grundlage für ein erfülltes Leben, sondern auch für Lernen. Ein positives Umfeld verbessert die Lernerfahrung um ein vielfaches (wie in diesem Beispiel).

Fehlerfreudigkeit und positive Unterstellungen sind Motivationsverstärkerinnen. Die Lernerfahrungen können besser und tiefer gemacht werden.

5. Zeit und Ruhe

Schonmal in Hektik für ne Prüfung gelernt? Und, wie viel wusstest du davon noch nach zwei Monaten?

Je hektischer wir lernen, desto schlimmer. Je mehr Zeit wir für die eigene Lernerfahrung uns nehmen, desto tiefer darf sie sinken.

Deswegen ist für den eigenen unerzogenen Weg so wichtig, dass du dir Zeit lässt. Und das gilt für alle Erfahrungen.

6. Freiwilligkeit

Das ist der springende Punkt. Deswegen schreibe ich diesen Artikel. Um ein schreckliches Missverständnis aufzuklären: Wir lernen nur, wenn es freiwillig ist.

Alles andere ist Auswendiglernen. Lernen ist gesteuert von Neugierde und die hält sich nicht an Entwicklungspläne.

Es tut mir leid. Das ist nun ein herber Schock für alle die, die gerne wollen, dass andere etwas genau dann lernen, wenn sie es nun mal wollen. Weil isso.

Wir haben diese Macht nicht. Und das ist auch gut so.

Lernen vs Ausführen

Wenn wir uns das Umfeld von Kindern anschauen, merken wir recht schnell, dass die Idee von Lernen eine ganz andere ist.

Gemeint ist ausführen. Ausführen ist etwas anderes als Lernen. Es ist mechanistisch. Es braucht kein Verstehen.

Und auch unser Umgang mit unseren Kindern, die ganze Idee von Erziehung, hat mit echtem Lernen nichts zu tun.

Es geht darum, dass Kinder ausführen. Dass sie brav die Hand geben – ob sie verinnerlicht haben, wie man einer Person respektvoll begegnet, ist dabei egal. Dass sie eben auch mal warten müssen – ob sie verinnerlicht haben, dass verschiedene Dinge verschieden viel Zeit brauchen und wie man damit umgeht, ist dabei egal.

Unsere Idee von Kindern ist mit dieser furchtbaren Idee von Lernen verknüpft und aus dieser Mischung entspringt ein Umgang, der (subtile) Formen von Zwang und Abwertung als absolut notwendig ansehen muss: Erziehung.

Und das ist schädlich.

Wenn dein Kind machen soll, was du sagst, erwartest du Gehorsam. Egal, wie nett du das meinst und wie oft du ‚bitte‘ sagst (dazu habe ich hier was gesagt). Und Gehorsam ist gefährlich. Gehorsam, so argumentiert Arno Grün in dem Buch, das ich nie müde werde zu empfehlen: Wider den Gehorsam, ist die systematische Unterdrückung unseres eigenen, originären Selbst.

‚Das muss es aber auch mal lernen‘ ist also schlicht gelogen. Niemand kann überhaupt lernen, wenn er_sie unter Druck steht.

Ausführen, auswendig lernen und gehorchen – DAS geht nur mit Druck.

Aber das ist es bestimmt nicht, was du willst, oder?

Dann lass den Gedanken los. Er führt zu Leid. Ich verspreche, dein Kind wird alles lernen können, just in dem Moment, in dem es das braucht.

Ich zum Beispiel bin eine Technikniete. Echt mal. Ich kriege gerade mal ne Mail geschrieben. Peinlich ist das.

Aber da hatte ich diese Idee zu einem Blog. Ne geile Idee. Und ja, da braucht es nunmal Technik für. So n bisschen zumindest.

Und ich fand mich rein. Denn es ging um etwas. Ich lernte ganz mühelos, was mich sonst zu Tode gelangweilt hätte. Weil ich es wollte und brauchte. Weil ich von meiner Idee beseelt war und sie umsetzen wollte.

Der Zeitpunkt war gekommen. Und mein Gehirn speicherte fröhlich alles, was ich da in mich hineinsog. Ohne Zwang. Ohne scheiß Gefühl, wenn ein Fehler dabei war. Ohne dass ich auch nur bewusst etwas üben musste.

Hab Vertrauen. Das ist es, was ich sagen will. Hab Vertrauen und glaube nicht der kleinen Stimme in dir, die mit dem Hänschen und dem Hans. Nein. Hans lernt. Hänschen lernt. Wir lernen immer.

Die Frage ist: Machen wir es uns schwer, in dem wir Druck auf uns und unsere Kinder abladen und Gehorsam fordern, in der irrigen Annahme, er führe zu Lernerfolgen? Oder leben wir einfach, in Freude und Vertrauen, und sehen all das Lernen vor unseren Augen und schätzen es?

Ich empfehle ja zweiteres. Wirklich.