Kennst du das? Du willst, dass deine Kinder etwas tun (oder sein lassen). Und irgendwo in deinem Hinterkopf sitzt eine Stimme, die sagt ‚… denn Kinder brauchen Grenzen‘.

Das sagen schließlich Bestsellerautor_innen, die Nachbarin und diese fiese Stimme eben auch. Und irgendwie fühlt sich das dann falsch an. Grenze setzen macht Bauchgrummeln. Keine Grenze setzen auch. Und nu?

Meist spürst du, dass diese ‚Grenze‘ die du da ziehen willst, künstlich ist. Es gibt keine ’natürlichen‘ Grenzen. Es gibt nur Hindernisse.

Dass du eigentlich einfach nur deinen Willen durchsetzen willst, zum Beispiel. Oder dass du deine Bedürfnisse – nach Schutz, Ruhe oder Verbindung – unbedingt erfüllen willst. Und dafür fällt dir nichts besseres ein, als die zu begrenzen, die gerade deinen Kontakt suchen: Deine Kinder.

Kinder brauchen Kontakt, keine Grenzen.

Aber: Ist es denn nicht wichtig, dass du dich erwehrst, wenn ein wütendes Kind dich angreift? Oder wenn es sich weigert, seine Schuhe anzuziehen?

Ist das nicht eine Grenze?

Nein.

Ich glaube: Das ist Humbug. Was du meinst ist Verantwortung. Für dich und andere. Und das ist einfach etwas komplett anderes. Grenzen verteidigen wir. Verantwortung haben wir. Grenzverteidigung geschieht gegen andere – Verantwortung nehmen wir für uns und andere wahr.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich schlage nicht vor, dass du dich nun hauen lässt (wenn es dich denn wirklich stört). Oder deine Dinge ungefragt nehmen lässt. Und ich schlage auch nicht vor, dass du dich zu etwas zwingen lässt, was du nicht tun magst. Das mag niemand.

Ich glaube nicht, dass Kinder Grenzen brauchen (das habe ich hier schonmal erzählt). Und ich glaube auch nicht, dass du und ich Grenzen haben.

Wir sind doch kein Staat.

Aber der Reihe nach. Was ist nun an dem Begriff so schlimm?!

Warum Grenzen Beziehung verhindern

Grenzen. Eine Metapher.

In seiner bahnbrechenden Arbeit zeigte George Lakoff, wie Metaphern bis in unsere Gehirnstruktur wirken. Metaphern aktivieren einen bestimmten, verknüpften Assoziationsbereich. Deswegen sind berühmte Reden mit kraftvollen Metaphern angereichert (diese hier zum Beispiel)

Grenzen, das ist das, worüber wir in der Politik diskutieren, das was für so manchen Menschen mit dem falschen Pass zum Verhängnis wird. Grenzen sind Verhinderer. Bei mir. Sie separieren. Sie werden durch Kriege und Elend verteidigt. Und bei dir? Was denkst du, wenn du ‚Grenze‘ denkst?

Grenzen. Willkürlich gesetzt und mit Macht verteidigt. Will ich das wirklich im Alltag mit meinen Kindern? Nicht, wenn ich nicht erziehen will. Wenn ich friedlich mit meinen Kindern leben will.

Und dann ist da noch das Problem, dass ‚Grenze‘ als Wort eine Tatsache verschleiert: Du kannst ja oft sehr wohl gut damit leben, wenn sie ‚überschritten‘ wird.

Oft ist das unangenehm. Aber allermeistens möglich.

Ich hätte immer gedacht, dass ich absolut nicht damit leben kann, nachts ständig geweckt zu werden. Niemand hätte das mit mir machen dürfen. Aber hallo! Da hab ich doch ne Grenze!

Ja – und dann bekam ich Kinder. Die mich nachts weckten und schrieen und gar nicht fähig waren, sich überhaupt für meinen Zustand zu interessieren. Für meine ‚Grenze‘.

Und also überschritt ich sie. Und das auch noch gern.

Da war nichts endgültig.Es war nur unangenehm.

Und das suggeriert dieses Wort eben auch: Endgültigkeit. Wo keine ist. Oft nutzen Menschen das Wort ‚Grenze‘ und meinen dabei ihr Unwohlsein; Es ist keine Grenze erreicht, wenn ein Kind eine Gurke auf den Boden wirft. Echt nicht.

Das nervt. Das kann ärgerlich machen oder Unwohlsein auslösen bei anderen. Aber nein, eine Grenze – etwas sehr definitives, etwas, was du brauchst um dich zu schützen, das ist nicht da. Es ist eine Gurke. Keine Grenze.

Beziehung statt Begrenzung

Und wenn du nicht mehr an Grenzen und Überschreitung und Verteidigung denkst, dann kommst du weiter: Dann fallen dir Lösungen ein für die Gurke. Du könntest:

  • Dem Kind etwas anderes zum Runterwerfen anbieten,
  • die Gurke Gurke sein lassen und später aufheben,
  • auf dem Boden weiteressen,
  • etwas ganz anderes tun.

Denn du brauchst nichts mehr verteidigen. Du musst deine Macht nicht mehr gebrauchen gegen dein Kind. Du darfst lösungsorientiert denken. Beziehungsorientiert. Glaub mir, das ist viel geiler als sauer sein wegen einer Gurke!

Ja, gut. Aber ich kann doch nicht alles einfach erlauben? Man hört das geflügelte Wort von Kindern, die Grenzen brauchen, doch immer und überall. Da muss doch was dran sein? Ich kann doch nicht einfach alles erlauben?

Nein. Kannst du nicht. Weil es unheimlich viele Dinge im Leben eines Kindes gibt, die echte Grenzen sind.

An einem wunderschönen Sommerabend saß eines meiner Kinder weinend am Fenster. Es brauchte eine ganze Weile, bis es mir, erschüttert schluchzend sagen konnte, was los war: Es wollte den Mond berühren. Das ging nicht. Und mein Kind war ganz entsetzt, dass auch ich ihm da nicht helfen konnte. Es war nicht möglich, den Mond zu berühren. Aber das brauchte ich nicht künstlich zu inszenieren, um einen Lerneffekt (der meist keiner ist) hervorzurufen. Ich verweigerte ihm auch keine Hilfe oder beschloss willkürlich, den Mond außerhalb seiner Reichweite zu platzieren – es war, wie es war. Und mein Kind trauerte darüber.

Unsere Kinder sind uns und ihrer Umwelt in vielerlei Hinsicht komplett ausgeliefert. Sie sind so hilflos, dass die Gefahr eines Entwicklungstraumas besteht, wenn wir ihnen nicht helfen. ‚Ergänzungsbedürftigkeit‘ nennt Ekkehard von Braunmühl, der Vater der Antipädagogik, diese Eigenschaft von kleinen Menschen. Kinder brauchen uns. Um sich in der Welt und all ihren natürlichen Begrenzungen zurechtzufinden. Um mit Emotionen umzugehen. Um zu lernen.

Mich und andere schützen – ja, bitte!

Und dann gibt es noch die Dinge, die du nicht zulassen willst.

Das ist bei jedem Menschen und von Stimmung zu Stimmung anders; Manchen ist Lärm unerträglich. Manche wollen nicht, dass ihnen weh getan wird. Das ist nicht universell. Das ist noch nicht einmal gleich bei jedem Menschen.

Ich finde das Wort ‚Grenze‘ auch da unzureichend. Dort ist es nur wichtig für dich, auf deine Integrität zu achten. Und das kannst du am besten, in dem du von deinen Gefühlen berichtest. Und Lösungen findest.

Was brauchst du dafür?

Erstmal musst du nur ’nein‘ sagen. Dann herausfinden, was dein Kind braucht. Und dann eine andere Lösung finden. Und manchmal wirst du feststellen, dass es keine Lösung braucht. Oder dass dein Kind dein ‚ja‘ so dringend braucht, dass du es dir anders überlegen willst.

All das geht aber nicht, wenn du starr in ‚Grenzen‘ denkst. Das geht nur, wenn du in Verantwortungskategorien denkst.

Daran, was du brauchst und wofür du einstehst. Daran, dass du allein für dein Wohlergehen und deine Integrität zuständig bin. Und daran, dass du gleichzeitig für das Wohlergehen deines Kindes verantwortlich bist.

Deine Lösungen mögen dann unvollständig und nicht immer befriedigend sein – aber sie sind in Liebe und Verbindung entstanden. Nicht im Grenzverteidigungskampf.