1. „Was ist mir wirklich wichtig?“

Die Vase ist kaputt. Die Nachbarin beleidigt. Die Oma schweigt dich an.

Dein Kind hat Mist gebaut. Vielleicht unabsichtlich, weil es ein Mensch und ein nicht eben erfahrener dazu ist. Oder auch, weil es keine Handlungsalternativen sah, Angst hatte, unerfüllte Bedürfnisse eine Rolle spielten oder oder…

Und nun?

Was ist dir wirklich wichtig? Welche Werte willst du leben? Du bist hier – ich gehe also davon aus, dass du interessiert bist an einem Leben auf der Basis von Werten wie Toleranz, Verbindung und Beziehungsqualität.

Wenn du das leben willst, passt das mit Schimpfen nicht zusammen. Oder mit Strafen. Damit lebst du deine eigenen Werte nicht. Kannste ja machen, führt nur halt zu weniger Erfüllung und Freude in deinem Leben und weniger Beziehungsqualität zu deinem Kind. Und außerdem ist es ineffektiv: Schließlich gibt es irgendeinen Grund, warum dein Kind tut, was es tut. Und den findest du nicht heraus, wenn du deine Macht gebrauchst. Nur wenn du neugierig bist und hinhörst, hast du eine Chance.

2. „Was würde ich mir wünschen, wenn ich dieses Kind wäre?“

Du bist vermutlich wie Millionen Menschen in der Idee groß geworden, dass es notwendig ist, gestraft zu werden. Klar, sonst kann man ja nicht lernen. Weiß ja jeder.

Really?

Heute wissen wir: Das Gegenteil ist der Fall. Nur die Freiheit von Strafen sichert nachhaltiges Lernen. Und damit sind wir bei einem Problem. Die Pädagogik löst das so, dass sie Strafen Konsequenzen nennt und als Lernerfahrung hochjubelt. Dabei bleibt die Lernerfahrung auch bei einem freundlich gehauchten ‚Josef-Eduard, dann darfst du aber nicht am Wandertag teilnehmen, das weißt du, ja?!‘ die Gleiche: Eine mächtige Person nutzt ihre Macht über eine ohnmächtige, um diese zu einem Verhalten zu zwingen, ungeachtet der inneren Motivation.

Das zu verschleiern, ist emsiges Geschäft in allen pädagogischen Bereichen, ändert jedoch nichts an den Effekten: Macht muss erlangt und erhalten werden, wenn wir erfahren, dass Ohnmacht mit Strafen rechnen muss. In extremen Fällen geht es dann nur noch um Macht als ultimativen Schutz vor Strafe, die moralische Idee dahinter wird vollständig ausgehölt: Solange ich Macht habe, kann ich tun, was ich will, denn niemand kann mich strafen. Dass diese Strafen einen moralischen Gehalt hatten, wird obsolet – denn ihre Umsetzung ist Gewalt, auf die die Psyche mit Widerstand oder Selbstattacke reagiert.

Deine Erfahrungen weisen also vermutlich darauf hin, dass du Strafen erfahren hast. Wenn dein Kind weint und du willst, dass es aufhört, um jeden Preis. Wenn dein Kind Schimpfwörter sagt und du willst, dass es aufhört, um jeden Preis. Dann liegt es nahe, dass du selber diesen Preis einst gezahlt hast.

Was hättest du gebraucht? Wen hättest du an deiner Seite gebraucht, bei all den Fehlern, die du lernendes Menschlein machen durftest und deren Bewertung dich heute hart gemacht hat?

Welche Worte hätten deine Ohren hören und welche Gesten deine Haut spüren und welchen Blick deiner Eltern hätten deine Augen sehen wollen?

Gib deinen Kindern, was du nicht hattest. Ja, das braucht viel Mut und meist mindestens 3000 Anläufe, ehe du dein Verhalten ändern kannst. Und ja verdammt, ich weiß, es tut weh. Es wirft Trauer auf und Angst und immer wieder ist da diese eine Stimme in deinem Kopf, die denkt, dass das, was du erlebt hast vielleicht doch sinnvoll war und dass Strafen doch notwendig sind. Weil du sie auch erlitten hast.

Diese Stimme ist die Identifikation mit dem Agressor. Sie ist das Ergebnis von Erziehung und verdammt mies. Ich kenne sie auch. Sie schleicht sich ein, wenn ich müde bin und Angst bekomme. Wenn ich wütend werde. Wenn ich hilflos bin und keine Handlungsalternativen in meinen Kopf kommen wollen. Dann kommt die alte Vertraute, Schwester von ‚es hat mir doch auch nicht geschadet‘ und beruhigt mich, indem sie meine moralischen Maßstäbe kürzt. ‚Mach dich nicht fertig, es muss halt sein‘ ist ihre verkürzte und rational nicht haltbare Botschaft. Ach, sie ist so verlockend!

3. „Was brauche ich?“

Um diese Stimme zu besiegen, brauchst du diese dritte Frage: Was brauche ich?

Das klingt erstmal seltsam. Aber ehe du mir mit ‚Na, eine heile Vase, verdammt nochmal!‘ antwortest, lass es mich erklären.

Was ich meine, ist: Welche Bedürfnisse hast du. Worum geht es dir? Ist das eine alte Erinnerung, die an dem Gegenstand hing? Denkst du, dass du nicht gesehen wirst in dem, was dir wichtig ist? Hat dich der Lärm erschreckt? Kommst du nun zu spät zu deinem nächsten Meeting?

Guck hin.

Was genau brauchst du gerade? Wie sieht es in dir aus? Lass dein Kind Kind sein und nimm dir den Moment, dein verwundetes Ich zu erkunden. Ich bin überzeugt, dass Strafen auf der mangelnden Kenntnis der eigenen Gefühle und Bedürfnisse beruhen. Und das wiederum ist eine Folge der eigenen erlebten Erziehung – ein Teufelskreis.

Aber du bist hier, um ihn zu durchbrechen. Also: Wer bist du unter deinen anerzogenen Mechanismen? Was fühlst du, welches lebendige, widersprüchliche und atmende Wesen bist du?

Das sind die Fragen, die zur Lösung führen.

Falls du dir jetzt sagst (oder mir gerade einen Kommentar drunter setzen willst): „Was soll das? Wie soll ich denn aus dem abstrakten Gelaber eine Lösung finden?“

Willkommen in der inneren Freiheit! Das Ding ist: Wenn du weg gehst von der Strafe und hin zu dem, was du brauchst, gibt es hunderte Lösungen. Du kannst zeigen,, wie es dir geht ohne deine Kind anzugreifen. Du kannst dir erstmal in Ruhe einen Tee machen und schweigend in dich hinein gucken und Neugierde üben. Du kannst tanzen gehen, um den Frust loszuwerden. Oder schreien. Oder so.

Es zählt, was deine Ressourcen sind. Was deine Geschichte dir ermöglicht. Welche innere Freiheit du von deinen Mustern hast. Es ist ein Weg.