Dieses „Unerzogen“.

Was soll das eigentlich? Machen da die Kinder, was sie wollen? Oder was dürfen sie entscheiden? Und was nicht? Bestimmen die echt alles selbst?

Das ist eine der häufigsten Fragen, die mir gestellt werden: „Ruth, was dürfen deine Kinder eigentlich bestimmen?!“

Ich sage: Gar nichts. Oder alles. Wie man es sieht.

Okay, ich fang von vorne an.

Unerzogen als Kinderrechtsbewegung

Erstmal: Unerzogen ist keine Laune, keine Mode, keine Methode und kein Konzept. Es ist Antipädagogik und wird seit 40 Jahren wissenschaftlich und in der Praxis entwickelt.

Der Grundstein ist, dass Kinder als Menschen angesehen werden, die die gleichen Rechte (!nicht Pflichten!) haben.

Sollte selbstverständlich sein. Bei anderen marginalisierten Gruppen ist nach vielen Jahrzehnten von Antidiskriminierungsarbeit inzwischen wenigstens ein Bewusstsein dafür da, dass sie die gleichen Rechte haben sollten. Bei Kindern nicht.

Warum das so ist, ist eine spannende Frage, die ihre Antwort in kultureller Praxis findet – wenn es alle machen ist es normal. Normalisiertes Verhalten muss ethisch einwandfrei sein. Alle Zweifel müssen rationalisiert werden („Ich tue das nur zu deinem Besten!“).

Alles Mechanismen, die in der Diskriminierung anderer Bevölkerungsgruppen bekannt sind.

Aber Moment – ich wollte doch über Selbstbestimmung reden. Und Antworten geben, wie man das händeln kann mit dem Bestimmen. Und warum ich gar niemanden irgendwas bestimmen lasse.

Hä? Was hat das mit Beziehung und Liebe zu tun?

Nur Geduld. Kommt gleich.

Bestimmen und Macht

Die Idee von Selbstbestimmung an sich zeigt den zutiefst verinnerlichten diskrimierenden Charakter des Umgangs mit Kindern.

Andere bestimmen lassen, bedeutet, dass wir bewusst auf unsere Macht verzichten und sie gleichzeitig anwenden. Paradox, oder?

Bestimmen lassen kann ein brutales Machtmittel sein. Nehmen wir nur die Idee der Pseudowahl, die unter Führungskräften sehr beliebt ist: „Willst du heute eher drei Überstunden machen oder auf Gehalt verzichten?“

Bestimmen lassen kann Gewalt manifestieren und Macht erst so richtig ausdrücken. Denn, wenn ich wirklich auf Machtgebrauch verzichte (ich habe sie trotzdem noch), muss ich damit rechnen, dass mein Gegenüber individuelle Vorschläge und Vorstellungen hat.

Halt! Moment! Höre ich dich rufen. Ich kann aber nun doch das Kind nicht alles bestimmen lassen!

Stimmt.

Wie entscheide ich, was mein Kind (mit)bestimmt?

Klar, da haben wir die klassischen Dinge, die ein Kind nicht überschauen kann – ob du dir das fette Eigenheim leisten kannst oder nicht betrifft das Kind, es kann aber nur wenig dazu sagen und erst recht nicht die Entscheidung überblicken mit allen Konsequenzen.

Und die Verantwortung trägt es eh nicht. Das ist aber nochmal ein anderes Thema.

Dinge, die seinen Körper betreffen, aber sollte ein Kind entscheiden. Damit es seine Integrität wahren kann, damit es seine Würde bewahren kann. Das ist aktive Prävention.

Was aber nun, wenn mein Kind sich nicht mehr waschen will? Soll es das einfach entscheiden und ich sage NIX?!

Nein.

Zeig dich. Zeig dich doch mit dem, was dich bewegt. Was du weißt. Gib denem Kind die Informationen. Sei an seiner Seite.

Gib Widerstand. Sag ihm „Ey, ich finde das eklig! Können wir da nicht nen Kompromiss finden?“ Streite.

Und dann entscheidet dein Kind über seinen Körper. Weil es sein Körper ist.

Das, was ich da beschreibe ist übrigens beinahe das Gleiche wie mit einem Erwachsenen. Der hat am Ende immer das Recht, über seinen Körper zu bestimmen (und wir sind mit der Verletzung der körperlichen Integrität traurigerweise bei Erwachsenen auch gleich viel sensibler). Und trotzdem ist Beziehung auch Widerstand, Streit, Informationen geben. Beziehung eben.

Deswegen rede ich nicht mehr von Selbstbestimmung. Ich sage was mich bewegt und was ich will und meine Kinder auch. Und dann verhandeln wir oder vertagen die Situation oder was auch immer.

Am Ende ist es nämlich egal.

Am Ende ist es scheißegal, wie oft dein Kind aufgeräumt hat.

Weil am Ende die Beziehung zählt – WIE hat das Kind aufgeräumt? War es ein Machtkampf oder ein Gespräch? War es Beziehung oder Erziehung? War es Angst oder Liebe?

Das nennt man Prozessorientierung – nicht das Ergebnis zählt, sondern der Weg. Ob am Ende aufgeräumt ist, ist egal, wenn die Bedürfnisse erfüllt sind. Und dafür müssen wir uns kennen lernen: Was brauche ich eigentlich? Wer bin ich eigentlich? Was fühle ich eigentlich?

Dann brauchen wir keine ‚Grenzen‘ und Regeln und wir müssen auch niemand zugestehen, dass er oder sie endlich mal selber bestimmen darf.

Dann leben wir miteinander. Statt gegeneinander. Und das ist ziemlich toll und macht ziemlich glücklich. Kann ich dir sagen.

Und jetzt gehe ich mal aufräumen.