„Ruth, ich will das nicht mehr tun! – aber ich weiß nicht, was ich brauche!“

Sie fängt an zu weinen.

Selina*, meine Klientin, beschreibt eigentlich eine alltägliche Szene: Ihr Kind will abends nicht schlafen gehen, obwohl es müde ist. Selina bittet das Kind, begleitet es – und rastet irgendwann aus. Meistens schreit sie es an. Manchmal geht sie raus, damit sie dem Kind nicht wehtut. Sie ist verzweifelt.

Selina ist nicht verzweifelt, weil ihr Kind nicht schläft.

Sie ist bereit, die Verantwortung für ihre Gefühle zu übernehmen. Sie will etwas ändern. Sie hat Juul gelesen und Alice Miller und ist irgendwann bei mir gelandet, weil ich wegmachen soll, was sie quält. Weil ich machen soll, dass sie nicht mehr wütend wird.

Was liegt unter der Wut?

Wenn ich dann aber mit Selina spreche, wird schnell klar, dass sie allen Grund hat, wütend zu sein: Sie unterdrückt, was sie bewegt. Sie unterdrückt, dass sie Angst hat, wenn ihr Kind nicht die Zähne putzen will. Sie unterdrückt, dass sie müde ist, wenn ihr Kind nicht schlafen will.

Sie will ihrem Kind nicht wehtun. Was äußerst löblich ist. Dafür lässt sie aber ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse über die Klinge springen.

Das Problem bei der Idee, wir müssten uns nur anstrengen, um dann endlich die Eltern zu sein, die wir sein wollen, ist, dass sie nicht funktioniert.

Es tut weh – wir melden uns ständig zurück, wie wir unser Verhalten finden und bewerten uns.

Es hilft nicht – Schuld und Scham sind sichere Indikatoren dafür, dass wir keine anderen Strategien entwickeln können und blockieren uns.

Kurz: Es ist Erziehung.

Erziehungsstimmen in unserem Kopf

Es ist Erziehung, wenn Eltern sich abwerten, wenn sie sich kritisieren und innerlich fertig machen. Egal wie hehr das Ziel ist, wenn die Mittel manipulativ und gewaltvoll sind, ist der Preis zu hoch.

Der Preis ist unsere Selbstachtung: Wir führen ein Leben, das uns unglücklich macht und funktionieren, aber wir leben nicht mehr.

Das Problem ist: Die meisten Menschen merken gar nicht, dass sie sich erziehen. Und das liegt daran, dass es beinahe alle tun. Sie unterdrücken ihre Gefühle und messen sich an irgendwelchen Idealen. Gegen die sie abstinken. Wie gemein!

Sie merken es erst, wenn sie, wie Selina, wütend werden. Verzweifelt sind. Depressionen bekommen.

Dann wird ihnen klar, wenn sie genau auf ihre Gefühle und Gedanken sehen, dass sie sich selber bewerten, einordnen, Noten vergeben.

Und sich dabei schlicht das Gefühl geben ‚So wie ich bin, bin ich nicht gut. Ich muss anders werden.‘

Und gleichzeitig gegen das schlechte Gewissen kämpfen und ihre Kinder belasten mit der Verantwortung, die zu ihnen gehört.

Ein Teufelskreis. In dem alle unzufrieden sind und leiden. Was für eine gemeine Scheiße!

Wie denn dann?!

Nun geht es in meinem Blog um Veränderung. Es geht darum, endlich liebevoller zu werden und freundlicher und zugewandter und Beziehung auszuhalten und all das.

Liebe zu lernen – ja, so könnte man das nennen, das Leben ohne Erziehung. Wie aber kommt Veränderung, wenn wir uns nicht bewerten?

Indem wir differenzieren.

Selina hat ihr Kind angeschrieen. Das ist schlimm, ohne Frage. Sie hat ihm Vorwürfe gemacht und die Verantwortung überlassen. Das ist psychische Gewalt.

Es ist schädlich und es ist moralisch falsch.

Was nichts daran ändert, dass sie das allerbeste gemacht hat, was sie konnte. In diesem Moment. Was nichts daran ändert, dass sie eine wunderbare Person ist. Was sie selbst nicht falsch macht. Moralisch falsche Handlungen machen keine falschen Menschen. Es sind moralisch falsche Handlungen. Es sind Fehler. Mehr nicht.

Sie kann sich nun bewerten und beschimpfen und sich schuldig fühlen. Dann wird sie den Anteil in sich erdrücken, der da so verzweifelt seine Bedürfnisse ausdrücken wollte. Und wieder wütend werden. Denn die Bedürfnisse verschwinden nicht. Sie wollen genährt werden.

Oder sie kann sich in den Arm nehmen, sanft zu sich sein, bedauern, was sie getan hat und wieder aufstehen. Sich entschuldigen. Die Verantwortung übernehmen und aufhören, über Schuld zu sprechen.

Und dann kann sie schauen, was sie braucht. Warum sie so ausgerastet ist.

Einer der Hauptgründe, warum Erziehung mich ankotzt ist, dass Menschen, die über lange Zeit Erziehung erfahren haben, an dieser Stelle meist komplett hilflos sind – was brauchen sie denn? Was fühlen sie eigentlich? Und welche Bedürfnisse sind vorhanden?

Erziehung hat Ziele. Die meisten kommen sehr positiv daher: Freundlichkeit, Güte, Großzügigkeit, Respekt, Klugheit. Alles sehr schöne Eigenschaften.

Das Problem ist, dass Erziehung zwangsläufig Stimmungen und Handlungen, die scheinbar (!) nicht in die gewollten Ziele passen, bewerten muss. Sie muss sie bewerten und zwar als schlechter als die erwünschten Handlungen und Stimmungen.

Wenn wir bewertet werden, werden wir zum Objekt. Wir sind nicht mehr selbst Bestimmer_innen dessen, wie unsere Welt ist und erlebt wird, sondern andere sagen uns, wie wir sind.

Viele Menschen übernehmen das für sich. Und stehen dann als Erwachsene da und wissen nicht, was sie fühlen. Was sie brauchen. Wer sie eigentlich sind und was der Sinn ihres Lebens ist.

Das klingt übertrieben, ist aber Alltag. Eltern, die verzweifeln in der Beziehung zu ihren Kindern, haben oft den Sinn für ihr eigenes Dasein nicht mehr. Sie funktionieren, sie existieren, aber sie leben nicht mehr.

Die anderen übrigens rebellieren und machen andere zum Objekt. Und viele Menschen pendeln zwischen den Polen.

So wie Selina. Sie hatte den ganzen Tag gearbeitet und brauchte dringend Wertschätzung und Autonomie. Da sie aber nie gelernt hatte, auf ihre Bedürfnisse zu achten und wie viele weiblich sozialisierte Menschen das Mütterbild im Kopf hatte, dass Eltern eben immer nett und freundlich sein müssen, meldete sie sich unterbewusst selbst zurück, dass ihre Bedürfnisse nicht wertvoll seien. Sie nahm sie gar nicht wahr.

Und dann wurde sie wütend.

Der Teil in ihr, der nicht länger von den über Jahren eingebrannten Erziehungsstimmen unterdrückt werden wollte, brach sich seine Bahn.

Für Selina kam es aus dem Nichts. Sie war vollkommen erschüttert.

Erst der Weg raus aus der Selbsterziehung kann uns neue Wege zeigen. Erst wenn wir in Verbidnung zu uns selber kommen, lassen wir die Bilder, wie wir sein sollten, los. Und das ist etwas Gutes – denn dann erst können wir die Eltern werden, die wir sein wollen. Auf unsere eigene, einzigartige Weise.

*Selina ist natürlich nicht ihr echter Name. Details sind geändert.