Ich könnte ausrasten.

Ey.

Immer wenn meine Tochter durch die Tür reinkommt, zieht sie sich aus. Sie bremst abrupt ab, bleibt wie angewurzelt stehen und streift alle ihre Klamotten ab, um nackt davonzuflitzen. Die Klamotten bleiben dann da so liegen. Klar. Sie hat ja zu tun.

Vollbepackt mit müdem Baby und tausend Dingen auf dem Arm jedes Mal eine haarscharfe Kurve hinlegen zu müssen, um sie nicht mitsamt ihren Ballerinaunterhosen mittels eines scharfen Tritts ins Kreuz durch den Flur zu befördern regt mich auf.

Jedes. Verdammte. Mal.

Wut und das Gehirn

Dabei ist es so lächerlich. Klar kann sie sich ausziehen. Ihr Körper, ihre Regeln (hier ein schönes Beispiel für den Umgang damit). Klar denkt sie nicht daran, ihre Sachen wegzulegen. Klar rennt und springt sie und klar hält sie abrupt an und denkt nicht an mich, die ich hinter ihr die Treppe hochschnaufe. Sie ist vier. Meine Güte.

Aber ich rege mich auf. Ich schimpfe, motze und maule herum, als hinge sonstwas davon ab.

Mehr noch, oft denke ich, während ich motze, dass es gerade vollkommen bescheuert ist und ich damit aufhören will. Das Problem ist, dass ich es nicht tue.

Wut ist nämlich ein Gehirnproblem.

Wenn wir wütend werden, feuert ein Areal unseres Gehirns, das lymbische System, und sendet ‚Notfall‘. Die Strategie: Angriff.

Dass das so schnell geht, ist ziemlich klar: Unser Gehirn ist für schnelle Problemlösungen gedacht, die im Notfall gar nicht erst den Umweg durch unser Bewusstsein gehen.

Wir handeln. Einfach so.

Und so kommt es, dass ich immer wieder da stehe und bedaure, dass ich wieder doofe Dinge gesagt habe. Dass ich gemein war. Dass ich ausgerastet bin.

Das Problem mit unseren Notfallstrategien ist, dass sie angelernt sind und nicht an Beziehung ausgerichtet. Sie sind effizient, ja, aber unsere Werte, das Abwägen unserer Verantwortung und all das – diesen Umweg gehen die Neuronen nicht. Sie feuern. Wir handeln.

Wenn das erstmal in Gang gesetzt ist, ist es extrem schwer, es aufzuhalten. Schließlich will uns unser Unterbewusstsein schützen, mit dem, was es zur Verfügung hat (hier wird deutlich, wie wichtig der Umgang mit aggressivem Verhalten ist – damit unsere Kinder ein größeres Repertoire lernen dürfen!).

Also ist es unglaublich wichtig, dass wir handeln, bevor wir in diese Situation kommen. Damit wir nämlich so handeln können, wie wir es eigentlich wollen. Und da ich bittere Erfahrung mit Wut habe, verrate ich dir heute exclusiv meine Lieblingsstrategien, um Wut abzuwenden:

1. Achte auf dich

Wut ist ein Seismograph. Bei Erdbeben ist es wie mit den Gefühlen: Ehe es rumst, baut sich längere Zeit Spannung auf. Um ein Erdbeben vorauszusagen, werden die Spannungen im Erdreich gemessen – um deine Wut zu verhindern, ist es wichtig, dass du die Fühler nach innen ausstreckst: Wie geht es dir? Wie fühlst und denkst du? Was brauchst du?

Und dann: Rechtzeitig gegensteuern. Nachhaltig gegensteuern.

Viele Menschen, die zu mir in die Beratung kommen, wissen gar nicht mehr, was ihnen gut tut. Wenn dir das auch so geht, hier ein paar Vorschläge:

  • gutes Essen
  • Sport, Bewegung
  • Raus in die Natur, frische Luft
  • Ruhe
  • Tee oder Kaffee trinken
  • Fernsehen oder lesen

Vieles davon ist mit Kindern wunderbar umsetzbar. Das Maß bestimmt dein innerer Seismograph: Zeigt er an, dass die Spannung nachlässt, ist es gut für euch alle.

2. Nimm dich ernst

„Ich hab gar keine Zeit für mich! Ich muss ja erst… und dann…“ so oder so ähnlich höre ich viele Eltern (und ich selber sage das noch viel zu oft).

Lass mich mal eben Klartext reden: Wenn du wütend wirst und Scheiße baust, ist das schädlich. Für dein Kind, weil es psychischer und eventuell gar physischer Gewalt ausgesetzt ist. Für eure Beziehung, weil dein Schreien, Nörgeln, Meckern und Abwerten das Vertrauen angreift. Und für dich selber, weil dieses Verhalten garantiert, dass du nicht bekommst, was du eigentlich willst: Verbindung (dazu Brené Brown in ihrem grandiosen Ted-Talk).

Also lass den Haushalt liegen, sag den Termin ab, scheiß auf die drei Torten, die du noch backen wolltest und steuere jetzt gegen. Für euch alle.

Und dein Kind kann dabei gleich erleben, wie wichtig du dich nimmst und wie Selbstfürsorge geht. Mach es ihm vor.

3. Eliminiere negative Energien

Manchmal, wenn ich mich so mit meinen Coachingklient_innen unterhalte, bin ich total erschrocken, in was für einer Umwelt sie sich da tapfer gegen Erziehung behaupten.

Da ist die Oma, die meint, dass früher alles besser war. Die Tante, die jeden Sonntag kommt und den Klaps empfiehlt, der ja ’niemandem geschadet‘ hat. Die Partnerin findet auch, dass Regeln aber sein müssen und man muss eben bestimmte Dinge. Und die Freund_innen auf dem Spielplatz sind regelmäßig beleidigt, warum das Kind bei Fehlverhalten nicht gemaßregelt wird.

In so einem Umfeld geht es dir wie dem Pinguin von Eckart von Hirschhausen: Du bist aus deinem Element. Ständig bist du dabei, dich abzugrenzen. Das ist sau anstrengend!

Achte darauf, dass du irgendwo deine Energien auffüllen kannst. Dass du Menschen in dein Leben lässt, wo du sein darfst, als Mensch und als Mutter. Das ist unendlich viel wert.

(Kleiner Tipp: Vielleicht gibt es ja auch in deiner Nähe ein unerzogen-Treffen? Wenn nicht, dann starte doch eines! Termine gibt’s im unerzogen-Magazin).

4. Beobachte deine Muster

Es gibt Dinge, die ärgern uns mehr als andere. Manche Menschen springen auf Unordnung an, andere auf Lärm, dritte auf Streit und Konflikte.

Finde deine Muster. Es bringt dir nix, zu wissen, dass deine Wut anderen schadet. Es ist wichtig zu wissen, wann sie auftritt, um dir helfen zu können.

Wut ist nicht da, um dich zu ärgern. Sie ist da, weil sie dich auf einen seelischen Notstand aufmerksam macht.

Neugierig und freundlich (!) auf dich zu schauen, wo sie herkommt, ist ein guter Beginn, um ihr den Stachel zu nehmen. Denn wenn Wut auf irgend etwas allergisch ist, ist es Empathie.

5. Achte auf deine Gedanken

Nein, das wird jetzt kein spirituelles Rumgehopse von wegen deine Gedanken formen die Welt.

Das ist nämlich beinharter Fakt!

Deine Gedanken formen, was du siehst und wie du es siehst.

In meinem Beispiel oben ist es nicht meine Tochter mit ihren Klamotten, die mich wütend macht. Es ist die Tatsache, dass ich denke, sie sollte das nicht tun. Dass ich denke, das sei respektlos. Unhöflich. Dass ich doch nicht ihr Diener bin.

Das macht mich wütend. Nicht mein Kind.

Das gilt für alle Gedanken. Achte auf sie. (Sehr hilfreich: Byron Katies Lieben was ist. Wie vier Fragen Ihr Leben verändern können).

6. Mache dir die Wut zum Freund

Haha, ich kann dich gerade quasi vor mir sehen: „Hä? Liest die ihre eigenen Texte nicht? Oben schrieb sie, Wut sei voll schrecklich und schlimm für Kinder!“

Ja, aus Wut kann Schreckliches entstehen. Das der Wut zugrunde liegende Gefühl, die Aggression, ist aber unendlich wertvoll.

Wir brauchen sie, um das zu verändern, was uns daran hindert, so zu leben, wie wir wollen. Aggression treibt uns an. Aggression hilft uns, nicht aufzugeben.

Deine Wut ist außerdem ein Hinweis: Schau hin. Hier ist ein Schmerz, eine Trauer oder etwas anderes, was du – vielleicht schon vor langer Zeit – begraben hast.

Nimm es ernst. Es könnte ein Schatz auf dich warten.