Achtung.

Der folgende Artikel könnte deinen Glauben in die moralische Erziehung von Kindern erschüttern.

Nur, dass du mir hinterher nicht sagst, ich hätte dich nicht gewarnt. Ne?

Üblicherweise glauben wir nämlich, dass moralisches Verhalten erworben wird, indem wir unmoralisches Verhalten kommentieren und korrigieren. Und mit Schuld und Scham operieren.

Ich habe das auch mal geglaubt. Klar, so krass hab ich nicht gedacht, aber meine Handlungen sprachen für sich: Wenn eines meiner Kinder moralisch falsch handelte, habe ich geschimpft, gedroht, abgewertet und gestraft.

Puh.

Das hat nicht nur unserer Beziehung geschadet, sondern auch ausgerechnet dem Erwerb von moralischen Fähigkeiten, den ich ja damit forcieren wollte (mehr dazu hier).

Okay.

Aber wie denn dann?!

Was ist moralisch richtiges Verhalten und wie lernt man das?

Moralische Erziehung ist wie jede Erziehung Makulatur. Es geht darum, wie jemand erscheint, nicht, ob jemand wirklich verinnerlicht hat, was er_sie als moralische Grundwerte annehmen mag.

Deswegen müssen wir das lassen, wenn es uns wirklich um die Beziehung geht. Moral wird vielmehr vermittelt, wenn wir unsere Gründe offenlegen und leben (!), was uns wichtig ist.

Diesen Spagat schaffen schon viele Erwachsene nicht. Und Kinder brauchen oft sehr lange, um komplexe soziale Regeln zu verinnerlichen.

Wie zum Beispiel das mit dem Lügen.

Lügen sind auf den ersten Blick schlecht. Wer lügt, verbirgt etwas. Ehrlichkeit ist Trumpf. Oder so.

Aber stimmt das wirklich?

Nein. Natürlich nicht. Es stimmt deswegen nicht, weil Lügen eine wichtige Fähigkeit ist. Wir brauchen sie. Um uns zu schützen in vulnerablen sozialen Zusammenhängen (dazu gleich mehr).

Wenn unsere Kinder lügen, setzen sie sich mit einer Realität auseinander.

Unsere Welt ist voller Lügen, Halbwahrheiten und Dingen und Menschen, die einander widersprechen. Das ist die Welt, in der sie leben.

Werbung. Ironie. Sich widersprechende Behauptungen und Handlungen („Ich habe es doch nur gut gemeint!“). Höflichkeitsfloskeln. Halbwahrheiten.

Unsere Welt lebt in und mit Lügen. Deal with it.

Was also, wenn unsere Kinder lügen? Was wollen sie denn damit sagen? Und wie gehe ich damit um?

Lass uns vorne anfangen. Was will es sagen?

Ich habe drei Antworten darauf.

„Ich bin kreativ.“

Im späteren Kleinkindalter bis zum siebten Lebensjahr etwa durchleben Kinder die sogenannte ‚magische Phase‘. In dieser Phase ist Lügen keine soziale Handlung sondern eine Einladung: „Guck! So sieht es aus in meiner Welt!“

Kreative Lügen mit moralischen Vorträgen oder Abwertungen zu begegnen richtet nicht nur den üblichen Schaden an, den erzieherische Manipulation anrichtet (Irrtum Erziehung).

Es ist schlimmer. Es richtet sich gegen die Tatsache, dass Menschen die Welt unterschiedlich sehen. Es richtet sich gegen die Welt deines Kindes.

Es ist gelebte Intoleranz (wieder so ein Ding mit Haltung und Handlung, merkste, ne?).

Wenn dein Kind dir also sagt, es sei heute auf einem goldenen Einhorn zum Kindergarten geflogen – lass es in Ruhe. Es tut niemandem weh, wenn in seiner Welt ein goldenes Einhorn vorkommt. Und in deiner nicht (Wobei – ist das nicht eigentlich schade?).

WENN es dir wehtut ist das dein Problem. Wenn du da stehst und denkst „Verarschen kannst du dich alleine!“ verwette ich meinen Hintern (der ist zwar außer Form, aber stattlich!), dass du selber Schmerz erlebt hast, der nun verhindert, dass du in Beziehung und Liebe handeln kannst.

Das lässt sich auflösen. Hol dir Hilfe!

„Ich lerne.“

Lügen ist eine soziale Fähigkeit. Lügen ist absolut notwendig, um sich sozial zu verhalten.

Ey. Nicht wegklicken! Ehrlich. Ich schwöre!

Warst du schonmal auf so einer richtig schicken Veranstaltung? So mit Krawatte und Cocktailkleid? Mit lauter Leuten, die du nicht kennst? Mit Hände schütteln, geistreicher Konversation und Kaviar?

Dann weißt du ja, wie anstrengend das ist. Die Lüge ist dort sozial gefordert und das geht weit über das „Gut!“ auf die Frage „Wie geht es dir?“ hinaus.

Glaubst du, dass da ein Einziger nicht lügt?

Und das ist auch gar nicht schlimm. Weil es ein sozialer Akt ist. Weil sich alle auf diese Art, sich zu verständigen, geeinigt haben. Das ist soziales Verhalten.

Nicht umsonst ist Sheldon von ‚The Big Bang Theorie‘ so lustig: Er kann nicht lügen (ein Problem, mit dem sich einige Asperger-Autist_innen herumschlagen) und ist damit ’socially inappropriate‘, wie man so schön sagt.

Lügen ist eine Kommunikationsstrategie. Jürgen Habermas, der politische Philosoph, nennt das die ‚verdeckt strategisches Handeln‘. Während strategische Kommunikation eher für erziehende Zwecke nötig ist, ist es trotzdem hilfreich, sie zu erlernen. Weil die halbe Welt so kommuniziert.

Verdeckt strategisch, also zielgebunden aber unter Vorgaukelung der Tatsache, es sei nicht zielgebunden. Das ist Lügen.

Das üben Kinder. Sie erleben es. Jeden Tag.

Da diese Art der Kommunikation sehr komplex ist, braucht es viel Übung, sie zu erlernen (nicht umsonst sagt man „Kindermund tut Wahrheit kund.“ und meint damit nicht unbedingt besonders sozial verträgliche Äußerungen!).

In fact, es ist ein Zeichen der Intelligenz, auf verschiedenen Niveaus lügen zu können. Ironie zum Beispiel ist ein Form der verdeckt strategischen Kommunikation, die weithin anerkannt ist als soziale Form des Miteinanders…

Freu dich also. Dein Kind lernt. Es probiert aus, wie Andere darauf reagieren. Zeige ihm, wie es dir damit geht, ohne es moralisch zu bewerten.

„Ich vertraue dir nicht.“

Diese Form der Lüge ist eine der schmerzhaftesten für Eltern.

Meist geht es dabei um Dinge, die mit Schuld oder Beschämung von dem Kind verknüpft wurden: Fehler zum Beispiel.

Selbst in bester Absicht und mit den freundlichsten Worten kann Beschämung entstehen und das Kind kann beschließen, Fehler in einem bestimmten Themenbereich nicht mehr zuzugeben.

Es kann sein, dass du selber dir gar nicht bewusst warst, dass die Reaktion schmerzhaft gewesen ist für dein Kind.

Es kann sein, dass du das sehr wohl weißt, aber die Scham darüber groß ist.

Wirf den Ball nicht zurück. Die Verantwortung für die Beziehung ist bei dir.

In diesem letzten Fall ist Lügen also ein schmerzhaftes Ausschlagen des Beziehungsseismographen.

Achtung, hier ist Vertrauen zerstört! Lautet die Botschaft.

Nein, nicht angenehm. Ich weiß. Aber eine große Hilfe, wenn du dich nicht mit deinen Schuldgefühlen aufhältst, sondern schnellstmöglich in den Kontakt gehst.

Frag nach – „Mag es sein, dass du gerade Angst hattest, mir zu sagen, dass die Vase kaputt ist? Es tut mir leid, dass ich neulich dazu geschmipft habe. Das war nicht in Ordnung von mir.“

Dabei ist komplett egal, ob du denkst, dass die Angst gerechtfertigt ist. Sie ist da. Also gilt es, Beziehung wachsen zu lassen und Vertrauen zu stiften. Indem du dich als vertrauenswürdig erweist.