Mein Sohn zieht seine Socken nicht selber an.

Im Ernst. Es ist zum Verzweifeln. Er hasst Socken. Sie vertüddeln sich um seinen Fuß, sagt er. Und dann zieht er sie nicht an und kräht nach mir. Jeden. Tag.

Dabei kann er die sehr wohl anziehen. Hab ich schon gesehen – war ein Notfall, glaub ich. Dringendes Fußballspiel oder ein Handbruch meinerseits. Oder so.

Denn normalerweise ziehe ich ihm seine Socken an. Immer. Und ab und zu krieg ich die Krise.

Kennste? Kennste sicher.

Helfen – warum brauchen wir das?

Kinder lieben es, umsorgt zu werden. Manche mehr, manche weniger. Umsorgen und helfen ist eine der ‚Sprachen der Liebe‘, wie es Gary Chapman in Die 5 Sprachen der Liebe für Kinder: Wie Kinder Liebe ausdrücken und empfangen ausdrückt.

Und für manche Kinder ist sie besonders wichtig.

Es fühlt sich nach Liebe an, wenn uns geholfen wird. Es fühlt sich nach Verbundenheit an, wenn ein anderer Mensch das übernimmt, was wir selber nicht machen können oder wollen.

Viele Eltern fürchten, dass sie, wenn sie ihren Kindern helfen, dem Kind den Weg in die Selbständigkeit verbauen. Dieses Denken kommt noch aus den finsteren Zeiten, als Eltern überzeugt waren, ‚verwöhnen‘ wäre so ziemlich das Schlimmste, was man einem Kind antun kann. Härte, Disziplin und der Zwang zur (scheinbaren) Selbständigkeit waren lange integraler Bestandteil der Kindererziehung – bis heute.

Dabei ist das, mal unter uns, einfach nur Unfug. Selbständigkeit ist Ziel allen Lernens und Lernen tun Kinder immer. Immer. Immer.

Du kannst nicht verhindern, dass es läuft. Du kannst nicht verhindern, dass es spricht. Du kannst nicht verhindern, dass es eines Tages seine Socken selber anziehen wird.

Zu glauben, bei einem gesunden Menschen wäre das möglich, grenzt an Wahnsinn. Das ist echte, irrationale, ungefilterte Angst. Mehr nicht.

Entspann dich also. Ich verspreche, dass du deinem 20jährigen Kind kein Brot mehr schmieren und auch nicht mehr die heruntergefallenen Dinge aufheben wirst.

Na gut. Vielleicht schon. Vielleicht hast du bis dahin nämlich gelernt, aufzuhören, ein Opfer zu sein.

Du hast richtig gelesen.

‚Ich bin doch nicht deine Dienerin!‘

In der Idee, Kindern nicht zu helfen, weil sie ja xy schon selber können, steckt nicht selten der Gedanke ‚Ich bin doch nicht dein Diener‘. Es ist der Gedanke, Opfer zu sein. Keine Wahl zu haben.

Stimmt nicht. Kinder kommen hilflos auf unsere Welt. Sie sind abhängig von uns. Ihnen zu dienen, also zu helfen, das zu erreichen, was sie aufgrund körperlicher, geistiger und emotionaler Unreife (noch) nicht allein erreichen können, ist unsere Aufgabe. Dafür sind wir mit ungleich mehr Macht ausgestattet.

Wir sind also sehr wohl ihre Diener. Im allerbesten Sinne.

Und das ist auch nicht schlimm. Im Gegenteil. Zu dienen ist ein Ausdruck großer Liebe. Zu dienen ist Demut und Hingabe und beides dient wiederum unserer eigenen Seele.

Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber wenn mir Sachen herunterfallen, ich etwas vergesse oder meine Wäsche schon wieder kreuz und quer rumliegt, bin ich total froh, wenn ein geliebter Mensch mir hilft. Ich komme nicht auf die Idee, der_die andere müsse das nun immer tun.

Ich freue mich dann und fühle mich geliebt und umsorgt.

Nicht umsonst gibt es eine boomende Hotel- und Wellnessindustrie. Sie bedienen eben dieses Bedürfnis, umsorgt und verwöhnt zu werden.

Verwöhnen negativ konnotieren – das tun wir nur bei Kindern. Warum?

Lass solche Gedanken nicht zwischen dich und deine Kinder. Mich macht es immer wieder fassungslos, wie erbittert Eltern mit ihren Kindern um Hilfe und das Verweigern von Hilfe streiten.

Oft steckt tiefe Verletzung dahinter.

Kein Zweijähriges, das etwas fallen lässt, ist der Überzeugung, seine Mutter sei wertlos und Dienerin. Es liebt seine Mutter, wie alle Kinder, abgöttisch. Und glaubt alles, was sie an Bildern transportiert – auch unbewusst.

Hör auf, dich wie ein Opfer zu verhalten. Schau dir deine Gedanken an und deine Wunden, aber lass dein Kind in Ruhe. Eine Beratung kann helfen, wenn der Schmerz zu überwältigend wird.

Die Verweigerung von Hilfe und ihre Folgen

Kindern Hilfe zu verweigern, wenn sie sie haben wollen, führt vielleicht zur Selbständigkeit, ja. Aber es führt auch dazu, dass sie sich allein fühlen. Heraus kommen Erwachsene, die keine Hilfe annehmen können und jedes Gefühl der Hilflosigkeit vermeiden.

Helfen ist großartige soziale Kooperation. Schenk sie deinen Kindern. Leb sie ihnen vor.

Viele Eltern rechnen außerdem auf – ich habe schon so oft geholfen, nun muss mein Kind aber auch mal. Lass das. Es tut nur weh. Es gibt Phasen im Leben, da braucht ein Mensch viel Hilfe. Und meist sind das die, in denen er auch nicht mehr freundlich darum bitten kann, sondern in Not ist.

Wenn dein Kind also etwas fallen lässt, hebe es einfach auf. Auch wenn es dabei unfreundlich ist. Freundlich zu einem freundlichen Kind sein, ist einfach. Liebe zu zeigen, auch wenn sich das Gegenüber von seiner unfreundlichen, bedürftigen Seite zeigt, das ist bedingungslos. Das ist Geborgenheit. Das ist die Kunst.

Hör auf zu kämpfen. Sie schulden dir nichts. Es sind deine Kinder und sie brauchen deine Liebe. Bedingungslos und nicht nur dann, wenn sie sich selber anziehen, ihr Zimmer aufräumen und den Müll runterbringen.

Kaum etwas war befreiender im Umgang mit meinen Kindern für mich, als aufzuhören, mit ihnen zu kämpfen. Denn wer Recht haben will, kann keine liebevollen Beziehungen haben. Und Beziehung ist mir hundertmal wichtiger als die zehnte Socke, die mein Sohn nicht anziehen will.

Ich räume meinen Kindern hinterher, solange ich das will und sie das brauchen. Und ich genieße es.

Den Kampf ist es einfach nicht wert.